Von Oktober 1984 bis April 1985 war Herr V. aufgrund seiner Alkoholabhängigkeit Patient in der Berghofklinik in Bad Essen. Der in Osnabrück lebende Mann ist heute 80 Jahre alt. Seit fast 35 lebt er abstinent.
Was geht Ihnen als erstes durch den Kopf, wenn Sie an die Berghofklinik denken?
Dass die Berghofklinik mir wirklich eine sehr große Hilfe war. Meine Therapie in der Klinik sehe ich als enormen Gewinn für mein jetziges Leben. Besonders mein damaliger Therapeut Herr Wagelaar war mir eine große Stütze. Er hat an mich geglaubt, auch wenn ich das damals schon lange nicht mehr konnte. Ohne diese Therapie in der Berghofklinik wäre ich heute sicher nicht mehr am Leben. Hier habe hier viel über mich selbst und meine Alkoholabhängigkeit gelernt. Ich bin dankbar für diese Zeit.
Sie leben jetzt fast 35 Jahre abstinent. Wie hat sich damals ihre Suchterkrankung entwickelt?
Ich habe immer aus Lust getrunken. Alkohol hat mir einfach geschmeckt. Gedanken habe ich mir keine gemacht. Zu Hause pflegte meine Mutter einen höheren Alkoholkonsum. Sie trank, um ihre Traurigkeit zu unterdrücken. Sie war alleinerziehende Mutter von vier Kindern – ich war der Jüngste. Mein Vater war im Krieg gefallen. Ich habe ihn in meiner Kindheit sehr vermisst. Während meiner Bäckerlehre wurde ich dann immer mehr an den Alkohol herangeführt. Der Grundstein für die Entwicklung meiner Alkoholabhängigkeit. Besuche von Feierlichkeiten wie Polterabende waren während meiner Lehre keine Seltenheit. Mein Chef lebte es mir vor. Schließlich habe ich jeden Tag getrunken und bin sogar Auto gefahren. Ich hatte wirklich einen Schutzengel.
Wann kam dann der Wendepunkt? Gab es ein explizites Ereignis?
Ja, das war meine fristlose Kündigung bei meiner damaligen Arbeitsstelle. Mir wurde geschäftsschädigendes Verhalten im angetrunkenen Zustand vorgeworfen. Für mich brach eine Welt zusammen. Während meiner Arbeit habe ich oft mit meinen Arbeitskollegen getrunken, aber nicht einen Tag gefehlt. An der Theke waren wir sozusagen alle die besten Freunde. Um nicht selbst in Schwierigkeiten zu kommen haben meine damaligen Kollegen aber dann allen Verdacht in meine Richtung gelenkt. Plötzlich hatte ich keine Freunde mehr. Der Tag endete mit einem Selbstmordversuch in meinem Kleingarten. Es blieb allerdings bei diesem einen Versuch.
Wie hat Ihre Familie auf die Kündigung reagiert?
Auch vor der diesem Ereignis hatte ich zu Hause bereits große Schwierigkeiten. Vor jedem Urlaub verspürte ich immer den größten Druck, Alkohol zu trinken. Zu Hause tobte meine damalige Frau vor Wut über die Kündigung und beschimpfte mich als „Saufschwein“. Über ein Gespräch mit einem Mitglied der Guttempler und einem darauffolgenden Arzttermin bin ich letztendlich in die Klinik in Hörstel eingewiesen worden. Dienstags erfolgte der Absturz auf der Arbeit, donnerstags der Termin beim Arzt und samstags die Aufnahme in Hörstel. Das ging dann alles sehr schnell.
Hatten Sie auch so schnell die Einsicht in Ihre Erkrankung?
Nein. Ich habe mich gar nicht als Alkoholiker gesehen oder eine Alkoholabhängigkeit wahrhaben wollen. Hier in der Klinik wurde ich schnell eines Besseren belehrt. Für mich waren die Therapien der letzte Rettungsnagel. Ich wollte mein Leben vor der Trinkerei zurück.
Was waren die prägendsten Momente Ihrer Therapie? Was hat Ihnen am meisten geholfen?
Ganz klar Herr Wagelaar. Er war mein Anker in der Therapie in Bad Essen. Der Knoten zwischen uns musste allerdings erst platzen. Wegweisend für mich waren auch die vielen guten Gespräche mit Schwester Rosalinde in der Klinik in Hörstel. Durch sie habe ich wieder Mut bekommen, weiterzumachen und nicht aufzugeben. Wir hatten einfach einen guten Draht zueinander. Während der gesamten Therapie konnte ich sehr viel über meine Vergangenheit nachdenken und was alles falsch gelaufen war. Geholfen haben mir besonders die vielen Einzelgespräche, aber auch die Beschäftigung in der Arbeits- und Kunsttherapie.
Während der Therapie und danach kann das soziale Umfeld bzw. die Familie eine tragende und hilfreiche Säule sein. Wie war das bei Ihnen?
Gut zwei Jahre nach dem Ende meiner Therapie hat meine damalige Frau die Scheidung eingereicht. Sie hatte gehofft, dass sie mit mir alles machen konnte, wie in meiner Zeit als Trinker. Durch die Therapie war ich jedoch selbstbewusster geworden. Damit konnte sie nicht umgehen. Während der Therapie hatte sie kaum Interesse, mich auf meinem Weg aus der Alkoholabhängigkeit zu unterstützen oder aufzubauen. Auf die Frage, warum sie das alles mitgemacht habe, antwortete sie, wenn die Wochenenden und Urlaube nicht so gut gelaufen wären, hätte sie mich schon längst verlassen. Bei der Suche nach einer Neuanstellung gab sie mir immer das Gefühl „Du kannst nichts, du bist und hast nichts!“. Für mich waren diese Worte letztendlich Ansporn, weiter zu machen.
Und beruflich – wie ging es nach der Therapie für Sie weiter?
Ich habe mit meiner Erkrankung und zurückliegenden Alkoholabhängigkeit sehr offen umgegangen. Eine Wiedereinstellung bei meinem alten Arbeitgeber war nicht möglich. Insgesamt habe ich mich bei 74 Firmen und Arbeitgebern beworben, jedes Mal erfolglos. Ich habe dann eine Anzeige in der Osnabrücker Zeitung aufgegeben: „Suche eine Stelle als Lagerarbeiter oder Fahrer.“ Am nächsten Tag meldete sich darauf prompt mein zukünftiger Arbeitgeber. Nach drei Probearbeitstagen wurde ich als Botenfahrer mit folgenden Worten eingestellt: „Sie müssen bei uns den Bulli fahren. Sie dürfen in Zukunft keinen Alkohol trinken und müssen pünktlich zur Arbeit erscheinen, dann sind Sie unser Mann!“. Rückblickend bewertet mein damaliger Arbeitgeber meine Einstellung als „gutes Werk“. Ich habe ihn nicht enttäuscht. Die Arbeit hat mir sehr viel Freude bereitet.
Was hat Ihnen geholfen, fast 35 Jahre abstinent zu leben?
Der Kampf um mein Eigentum! Nach meiner ersten Scheidung habe ich alles verloren und hatte einen Berg Schulden. Ich habe nicht aufgegeben und habe einfach gekämpft, um nicht wieder ins Strudeln zu kommen. Das war gar nicht so einfach, folgte doch auf die erste Scheidung eine weitere Ehe mit Scheidung und viel Geldverlust. Ich lebe nicht gerne allein und habe mir trotz der negativen Erfahrungen neue Partnerinnen gesucht.
Zum Abschluss: Wie geht es Ihnen heute?
Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe. Nach einigen Fehlschlägen habe ich meine jetzige Frau gefunden. Wir sind jetzt 10 Jahre verheiratet und ich kann heute mit Stolz sagen, dass es kein Fehler war. Wir reden über alles und arbeiten zusammen für uns beide. Als Säufer dachte ich, ich werde nur 52 Jahre alt. Nun feiere ich in diesem Jahr meinen 80. Geburtstag. Bei uns zu Hause leben 150 Jahre zusammen. Traurig bin ich über die vertane Lebenszeit, während der ich getrunken habe. Aber mein Wahlspruch war und ist: Wer aufgibt hat verloren! Manchmal ist das Leben hart und ungerecht, aber letztendlich muss jeder was für sich selbst machen und für sich selbst sorgen. Getreu dem Sprichwort: Suche deine Fehler selbst zu erkennen, denn die Wohlwollenden machen dich nicht darauf aufmerksam um dir nicht weh zu tun; die Feinseligen nicht, weil sie sich über deine Fehler freuen.