Chefarzt der Paracelsus Wiehengebirgsklinik Bad Essen fordert, die psychische Abhängigkeit beim Thema Rauchen nicht aus den Augen zu verlieren / Raucher-Statistiken erfassen vielschichtiges Problem oft nicht in seinem ganzen Umfang
Lungenkrebs, Kehlkopfkrebs, Erblindung, Schlaganfall – die körperlichen Folgen des Rauchens werden durch die Schockbildern auf Zigarettenpackungen drastisch vermittelt. Den eigentlichen Kern des Problems, die psychische Abhängigkeit, treffen sie aber nicht, sondern bagatellisieren sie sogar, sagt Dr. med. univ. Christoph Bätje, Chefarzt der Paracelsus Wiehengebirgsklinik Bad Essen. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, der an der Rehabilitationsklinik täglich Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen behandelt, weiß, wovon er spricht: „Raucher gehen nicht nachts im Regen zum Kiosk, um Zigaretten oder Tabak zu kaufen. Sie stehen nicht in der Kälte vor einem Restaurant, um Tabak zu konsumieren. Nein, sie brauchen Nikotin, egal in welcher Form. Die psychoaktive Substanz ist das eigentliche Problem. Die Abhängigkeit entsteht im Kopf, nicht in der Lunge.”
Wissenschaft im Zugzwang
Der Chefarzt der Fachklinik für die stationäre Entwöhnungsbehandlung von stoffgebundenen Abhängigkeiten fordert deshalb anlässlich des Weltdrogentages am 26. Juni ein Umdenken. Statt die Zahl der Raucher in verschiedenen Altersstufen zu zählen, solle man die Zahl der Nikotinabhängigen erfassen. Denn die sei erheblich höher. „Menschen, die Nikotinpflaster kleben oder Nikotinkaugummis kauen, die Kautabak konsumieren oder Schnupftabak nehmen, fallen in der Regel aus solchen Statistiken, obwohl sie nikotinabhängig sind”, erklärt Dr. Bätje. „Das ist, als ob Sie in einer Erfassung der Alkoholkonsumenten die Weintrinkerweglassen.” Das Problem sei, dass die Statistik der technischen Entwicklung hinterherlaufe. Einige Zählungen erfassten Zigaretten und weitere Tabakprodukte, andere zusätzlich das „Dampfen” von E-Zigaretten, obwohl es hier Liquids mit und ohne Nikotin gebe und auch Tabakerhitzer, die echten Tabak nicht verbrennen, sondern nur erwärmen. Selbst die bisher gültige Klassifikation der psychischen Erkrankungen durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) laufe der Entwicklung hinterher. Denn danach gebe es zum Beispiel gar keine Nikotinabhängigkeit, sondern nur eine Tabak-Abhängigkeit. Damit würde die E-Zigarette medizinisch praktisch überhaupt kein Problem darstellen. Ein Widerspruch in sich.
Anpassung erforderlich
So wie sich die Vielfalt der nikotinhaltigen Produkte geändert habe, müsse sich auch der Umgang mit dem Problem Nikotin selbst ändern, fordert Dr. Bätje, sonst verfehle man das Ziel. Es gehe letztendlich nicht primär um die Frage, auf welche Weise Nikotin konsumiert werde, sondern warum und mit welchen psychischen Auswirkungen auf die Menschen. „Wenn sich Politiker besorgt zeigen, weil immer mehr junge Menschen rauchen, zuletzt 15,9% der 14- bis 17-Jährigen, dann hilft es nicht, die Zigaretten teurer zu machen”, argumentiert Dr. Bätje. „Man muss den sozialen Ursachen auf den Grund gehen und die Sache an der Wurzel packen.” Es sei nicht überraschend, wenn in den Jahren der Pandemie mit Home-Schooling und eingeschränkten Sozialkontakten mehr Jugendliche die Flucht in Nikotin, Alkohol und Cannabis angetreten hätten. „Jede Sucht ist immer auch eine Flucht”, so der erfahrene Arzt. „Psychotrope Substanzen sind immer eine Möglichkeit, die Welt nicht so wahrzunehmen, wie sie ist. Das wissen wir aus unserer psychiatrisch-therapeutischen Arbeit. Was wir jetzt brauchen, ist eine Rückbesinnung auf unsere eigentlichen Ziele, nämlich die Ursachenbekämpfung von Abhängigkeit und eine medizinisch wirksame Rehabilitation betroffener Menschen und deren Rückkehr in die Gesellschaft.”