„Der unbändige Wille und die Stärke, wieder aufzustehen, imponiert mir.“
Sie sind nun etwas mehr als ein Jahr Chefarzt der Paracelsus Wiehengebirgsklinik – was wurde in dieser Zeit rückblickend erreicht?
Ein Jahr, das sehr schnell vergangen ist. Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir zum Beispiel die Einführung unseres digitalen Patienten-Portals. Damit können unsere Rehabilitandinnen und Rehabilitanden auf einen Blick und jederzeit griffbereit auf dem eigenen Smartphone alle Informationen unserer Klinik abrufen und erhalten digital ihren persönlichen Therapieplan. Weiterer Vorteil: Wir können tagesaktuell und per sofort Nachrichten oder Terminänderungen an alle Rehabilitandinnen und Rehabilitanden schicken. Für den Therapiealltag ein immenser Fortschritt. Außerdem haben wir unser Angebot für Begleithunde ausgebaut, sodass wir seit ein paar Monaten vier Hundezimmer anbieten können und damit Rehabilitandinnen und Rehabilitanden ihren Hund mit auf ihr Zimmer nehmen dürfen. Ein weiterer Punkt ist weniger etwas erreichtes, vielmehr eine Veränderung, die mit der Zeit geht: Die Anreise mit dem eigenen PKW ist nun für Rehabilitandinnen und Rehabilitanden zu uns in die Klinik möglich. Und nicht zuletzt: Wir konnten unser Mitarbeiter-Team verjüngen und junge dynamische Fachkräfte für unsere Klinik gewinnen. In Zeiten des Fachkräftemangels ein erfreulicher Punkt!
Schauen wir etwas in die Zukunft – wohin würden Sie die Wiehengebirgsklinik gerne weiterentwickeln?
Meine Vorstellung geht dahin, dass wir als Paracelsus Wiehengebirgsklinik eine Art Begegnungszentrum werden. Ein Ort, an dem Selbsthilfegruppen, Zuweiser und Suchtberatungsstellen, Rehabilitandinnen und Rehabilitanden sowie Ehemalige zusammentreffen. Meine Vorstellung ist, dass unsere Klinik als eine Art „Stadtplatz“ für Zusammentreffen erlebt und gelebt wird. Vor diesem Hintergrund ist die Absage unseres diesjährigen Jahrestreffens schade. Aber das Treffen bedarf einer Neuausrichtung, die Zeit und Organisation braucht. Ich möchte, dass unsere Klinik dazu beiträgt, dass Menschen die Berührungsängste mit Erkrankten verlieren. Deswegen auch die Idee, anstelle des Jahrestreffen eine Art „Tag der offenen Tür“ zu feiern. Die Entwicklung für ein neues Konzept bedarf aber ein wenig Zeit, damit dieses viele Erwartungen erfüllen kann und etwas Gutes entsteht. Das ist unser Ziel! Wir hoffen natürlich sehr, dass das neue Format viele abholt und wir viele Ehemalige, aber auch Selbsthilfegruppen oder Vermittler ansprechen.
Kommen wir zurück zum aktuellen Therapiealltag: Können Sie sagen, mit welchem Patientenklientel Sie besonders gerne im Rahmen der stationären Entwöhnungsbehandlung arbeiten?
Ich arbeite unglaublich „gerne“ mit Therapie-Wiederholern zusammen. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Bei dieser Klientel imponiert mir die Stärke wieder aufzustehen und weiterzumachen. Der unbändige Wille und die Stärke, wieder aufzustehen, ist aber per se etwas, was ich an all unseren Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mag und mich motiviert.
Schauen wir etwas über den Tellerrand der Klinik: Was treibt Sie medizinisch gerade um? Wo sehen Sie Handlungsbedarf?
Unweigerlich geht mein erster Gedanke zum Thema „Legalisierung von Cannabis seit dem 1. April 2024“ in Deutschland. Was mich aus Suchtmediziner-Sicht dabei besonders umtreibt: Durch die Unterscheidung zwischen legalen und illegalisierten Drogen bauen wir automatisch eine Hemmschwelle auf, die Betroffene daran hindert, Hilfe in Anspruch zu nehmen und in Behandlung zu gehen. Fakt ist: Menschen leben heute in Lebensrealitäten, in denen sie versuchen, mit einer psychotropen Substanz die Lebensrealität für sich erträglich zu machen. Früher hat man sich mit den Arbeitskollegen nach Feierabend auf ein Bier in der nächsten Kneipe getroffen und sich den Kummer des Tages weggetrunken. Heute wird zum Beispiel Cannabis konsumiert. Was heißt das für unsere Klinik und unsere Arbeit: Ich glaube, dass wir den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden, die nicht nur alkoholabhängig sind, in unserer Klinik nicht das Gefühl geben dürfen, dass sie von einer ehemals illegalisierten Substanz abhängig sind. Wir müssen in die Wertfreiheit jenseits einer moralischen Bewertung des Suchtmittels kommen. Andernfalls werden wir meiner Meinung nach den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden und ihren individuellen Einzelindikationen nicht gerecht. Dafür müssen wir uns von den Begrifflichkeiten „illegalisiert“ und „legal“ verabschieden. Die Diskussion führt auf eine politische und Werte-Ebene, aber weg vom Thema „Suchtmittel“. Dadurch entfernen wir uns vom Menschen, der im Mittelpunkt unserer Arbeit stehen sollte, und wir stellen die Juristerei mehr in den Fokus.
Welche Auswirkungen „erwarten“ Sie durch die neue Gesetzgebung ab dem 1. April und wie wollen Sie im Klinikkontext darauf reagieren?
Aus meiner Sicht besteht die Gefahr, dass wir außerhalb der Klinik Menschen in einer Kohorte zusammenfassen, in der Konsum als Normalität bewertet wird. Im Gegensatz dazu steht unser Klinikumfeld: Wir versuchen den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden ein trockenes und sicheres Umfeld zu schaffen, damit sie lernen, dass es diese Orte und Umfelder gibt. Diese Auseinandersetzung erachte ich als wichtig für uns als Klinik für die stationäre Entwöhnungsbehandlung. Unsere Aufgabe wird es sein, uns innerhalb unseres neuen jungen Teams mit solchen Themen auseinanderzusetzen. Wir müssen uns dieser gesellschaftspolitischen Bedeutung annehmen, um einen adäquaten Umgang zu finden. Im Therapiealltag sehen wir, dass ganz viele unserer Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit einer Co-Diagnose neben der Alkoholabhängigkeit – überwiegend eine Tabakabhängigkeit – zu uns kommen. Es bedarf an dieser Stelle also einer Weiterentwicklung unserer Klinik und unseres Therapieangebotes. Kurzum: Dadurch, dass wir etwas aus dem illegalisierten Raum ins Legale „heben“, haben wir keine salutogenetische Antwort, wie wir damit umgehen. Dafür müssen wir Antworten finden!