„Süchtig nach Leben” – Jeder Weg in eine Abhängigkeit ist vielschichtig, facettenreich, sehr persönlich und individuell. Mit diesem SehnSuchtblog möchten wir die persönlichen Geschichten dahinter beleuchten, Suchttherapie-Möglichkeiten aufzeigen, bestärken, den Weg aus der Sucht zu gehen und Lebenslust versprühen. Denn: Das Leben ist schön, sogar wunderschön. Und zu schön, um es vom Suchtmittel beherrschen zu lassen.
Nach wie vor erleben Betroffene und ihre Angehörigen eine hohe Stigmatisierung, wenn es um einen offenen Umgang mit psychischen Erkrankungen geht. Ängste und Sorgen wie mein Gegenüber auf die Erkrankung und Offenheit reagiert, spielen hier eine große Rolle und sind besonders einnehmend. Einmal mehr ein Grund, das Thema genauer zu betrachten – insbesondere aus Sicht der Betroffenen, unserer Patientinnen und Patienten, aber auch aus Expertensicht.
Die eigene Akzeptanz
Um der Stigmatisierung entgegenzutreten, steht für viele Bad Essener Patienten zunächst die eigene Akzeptanz ihrer Erkrankung an erster Stelle. „Ich möchte mich selbst mehr akzeptieren und weniger sagen „Stell‘ dich nicht so an“, stellt eine Patientin für sich fest. „Je mehr Menschen mit dem Tabu brechen, desto schneller fällt dieses Tabu in sich zusammen, löst sich auf und wird besprechbar. Ein Stigma, eine Schwäche, die zu einem Makel erklärt wurde und ein Tabu ist, bleibt so lange erhalten, wie es am Leben gehalten und genährt wird“, ergänzt eine weitere Patientin.
Wünschenswert: mediale Aufklärung und Berichte
Gleichzeitig besteht bei vielen Patienten der Wunsch nach mehr medialer Aufklärung und Berichterstattungen zu psychischen Erkrankungen, sodass die Erkrankungen weniger negativ behaftet und weniger pauschal abgetan würden. Ein Verständnis müsse entstehen. „Ich wünsche mir weniger Bemerkungen wie „Die soll sich nicht so anstellen und sich ablenken – dann ist gut“, bringt es ein Patient auf den Punkt. Die Hemmschwelle, sich als Betroffener die Bedürftigkeit einzugestehen, sei immens hoch. Außerdem koste das langjährige Vertuschen ausschließlich Energie und Kräfte, berichtet eine Patientin über die Zeit ihre Abhängigkeit. Umso wichtiger ist ein erleichterter Zugang zu Unterstützungsmöglichkeiten. „Allein die Scheu „Ich brauche Hilfe“ gegenüber dem sozialen Umfeld oder auch gegenüber dem Arbeitgeber zu äußern ist extrem hoch. Wenn ich dann noch die Sorge haben muss, dass die Wartezeit auf einen Therapieplatz ein ¾ Jahr dauert, mache ich mich gar nicht erst auf den Weg zu Hilfsangeboten. Wenn die Wartezeit kürzer oder die gute Chance auf ein direktes Erstgespräch da wäre, würde ich mich sicherlich eher melden“, ist sich ein weiterer Patient sicher. Seit März, so berichtet eine Patientin abschließend, sei sie aus ihrem Versteck herausgetreten und damit seien ihre Energien und Kräfte stetig weiter angestiegen, größer, stärker und haltgebend geworden. Das habe sie sich selbst und vor allem den Menschen zu verdanken, die sie seitdem durch Zuspruch, Hilfen und Ermutigungen bestärkt haben. „Heraustreten und darüber sprechen, dann hat die Isolation ein Ende. Ich werde damit weitermachen – für mich und für andere“, steht für sie fest.
Prominente Beispiele als Türöffner
Aus Sicht von Jana Kaiser, Therapie-Standortleitung der Paracelsus Kliniken Bad Essen, hat sich seit Beginn ihrer therapeutischen Karriere bereits einiges in Richtung Entstigmatisierung getan. „Ich persönlich erlebe eine größere Offenheit über psychische Erkrankungen zu sprechen. Dazu haben sicherlich auch viele promintente Beispiele beigetragen, z.B. der tragische Suizid vom Torwart Robert Enke und der Schritt in die Öffentlichkeit seiner Witwe oder der Komiker Kurt Krömer mit einem Buch über seine Depression.“ Insbesondere bei Männern haben diese Beispiele mehr Türen geöffnet. Insgesamt sei aus ihrer Sicht das Thema „Depression“ viel selbstverständlicher ein öffentliches Thema. Das „outen“ an einer psychischen Erkrankung zu leiden falle leichter und damit auch der Zugang zu professioneller Hilfe. Das gelte gleichfalls für das Thema Sucht und den problematischen Konsum, die öffentlicher besprochen werden. „Einschränkend muss ich beim Thema Sucht allerdings sagen, dass die vermehrte öffentliche Besprechung nicht ausreichend mit einer Entstigmatisierung einhergeht. Immer noch nicht wird die Sucht auch als ernstzunehmende, schwere, chronische Erkrankung verstanden. Vielmehr wird Konsum bagatellisiert und der Verlust der Kontrolle darüber als Versagen gewertet“, berichtet Kaiser. Das führe zu einem späten Aufsuchen von Hilfe und teilweise zu geringer Unterstützung im sozialen Umfeld der Betroffenen.
Stigmatisierung als Teufelskreis
„Unsere Patientinnen und Patienten erlebe ich häufig sehr belastet durch die Stigmatisierung. Insbesondere Scham- und Schuldgefühle spielen eine große Rolle“, so Kaiser. Dies führe nicht zuletzt dazu, dass spät Hilfe aufgesucht, Betroffene sich zurückziehen und sich sozial isolieren würden. Hier entstünde ein Teufelskreis aus Scham, Rückzug und vermehrtem Konsum, denn ein geringes soziales Netzwerk sei ein bedeutender Risikofaktor für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Sucht. Neben dem Umfeld oder der Gesellschaft seien aber auch die Betroffenen selbst eher unbewusst, so Kaiser, mit einem hohen Anteil an der Stigmatisierung beteiligt. Im therapeutischen Setting in den Kliniken äußert sich dieser Anteil als Selbstabwertung, Versagensgefühle oder auch in Abwärtsvergleichen unter den Patienten selbst. Frei nach dem Motto: „So schlimm wie bei dem oder der war es bei mir zum Glück noch nicht“ oder „Ich habe ja nur ein Bier getrunken und nicht die harten Sachen. „Unsere Arbeit und unser Ziel ist es, im Rahmen der Behandlung bei uns ein Krankheitsverständnis aufzubauen, die Akzeptanz der Erkrankung sowie die Integration der Erkrankung im Selbstbild ohne Abwertung des Selbst.“
Beim normalen Konsum ansetzen
Für die Zukunft wünsche sich Kaiser, dass die Abhängigkeit mehr als Erkrankung verstanden und angenommen wird. Dies erfordere insbesondere in der öffentlichen Diskussion mehr als eine Aufklärung über die Erkrankung, sondern sollte bereits in der Reflektion des „normalen“ Konsum ansetzen. „Wir leben in einer Hochkonsumgesellschaft, in der der Genuss von Alkohol kulturell sehr verankert ist“, bilanziert Kaiser. Es ginge ihr nicht um ein Verbot oder eine Verteufelung, vielmehr wünsche sie sich eine bewusstere Entscheidung und weniger Bagatellisierung im Hinblick auf den Konsum. Das schließe auch mehr Toleranz für andere Wege, wie z.B. abstinent zu feiern ein, und erleichtere Betroffenen ein erfülltes Leben zu führen, ohne dass es sich nur nach Verzicht anfühle.