“Süchtig nach Leben” – Jeder Weg in eine Abhängigkeit ist vielschichtig, facettenreich, sehr persönlich und individuell. Mit diesem SehnSuchtblog möchten wir die persönlichen Geschichten dahinter beleuchten, Suchttherapie-Möglichkeiten aufzeigen, bestärken, den Weg aus der Sucht zu gehen und Lebenslust versprühen. Denn: Das Leben ist schön, sogar wunderschön. Und zu schön, um es vom Suchtmittel beherrschen zu lassen.
Rund 38 Jahre abstinent leben – wie schafft man das? Herr D., Dienstältester Rocker auf Norderney, über seine Suchtgeschichte, seine Therapieerfahrung und wie es ihm heute geht. Rückblickend sagt er: „Das ich mit 32 Jahren, schon so früh, aufhören durfte, war ein Geschenk. Die Therapie hat mir ein neues Leben geschenkt.“ Aber beginnen wir ganz am Anfang.
Früher Kontakt zu Alkohol
Den ersten Kontakt mit Alkohol hatte er schon als sehr kleines Kind, so Herr D. „Als kleines Kind liebte ich die Atmosphäre unter dem Tisch, wenn meine Verwandtschaft Skat oder Doppelkopf gespielt hat. Die Stimmung war immer ausgelassen. Am Ende durfte ich die leeren Likörgläser auslecken.“ Mit seiner Konfirmation, mitten in der Pubertät, durfte er öffentlich trinken, hatte aber auch schon vorher das ein oder andere Bier getrunken und merkte schnell, dass es ihm mit Alkohol leichter fiel mit Mädchen in Kontakt zu kommen. „Ab diesem Zeitpunkt, beschreibt Herr D., habe ich richtig angefangen zu trinken. Wäre ich vernünftig gewesen, hätte ich merken müssen, dass ich ein Problem habe. Habe ich aber nicht.“ Der Konsum steigerte sich immer weiter, auch Drogen kamen dazu. „Während meiner Lehre zum Bürokaufmann in einer Spedition war ich mehr oder weniger nur betrunken“, blickt Herr D. zurück. Er habe neben dem Alkohol gekifft wie ein Weltmeister, stieg dann irgendwann auf härtere Drogen wie LSD um. Wegen der zahlreichen Strandfeste auf Norderney war es kein Problem, an Drogen zu kommen. „Ich habe mich unterm Strich einfach immer nur abgeschossen, war quasi im Dauerrausch. Das schlimme daran: Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, dass mich mein Konsum das Leben kosten könnte“, gibt Herr D. zu.
Mit dem Drogenkonsum war allerdings von einem auf den anderen Tag Schluss. Auf einer Strandparty begegnete er einem jungen Hamburger, der bei 30 Grad im dicken Pelzmantel am Strand saß und seine Drogen konsumierte. „Der war erst 15 Jahre. Für mich war in dem Moment klar: Da möchte ich nicht hinkommen und habe aufgehört.“
Der Hass auf sich selbst
Nach Abschluss seiner Lehre bekam Herr D. zunächst einen festen Job in der Spedition, war aber durch seinen stetigen Konsum mit den Aufgaben überfordert und wurde schlussendlich rausgeworfen. „Dafür habe ich mich so geschämt, dass ich es keinem erzählt habe.“ Ein Nebenjob in einer Kneipe war natürlich ein weiterer Schritt in die falsche Richtung: „Tagsüber habe ich dort sauber gemacht, auch die Flaschen von innen. Abends war dann nicht mehr viel los mit mir.“ Es folgte ein Job im Hotel- und Gastgewerbe mit ähnlichem Verlauf, ehe er über Beziehungen seiner Mutter bei den Stadtwerken Norderney landete. Natürlich habe seine Familie seinen Alkoholkonsum die ganze Zeit über wahrgenommen. Seine Mutter lauerte ihm sogar öfters am Kiosk auf, wenn er sich Nachschub besorgen wollte. Sie gab nicht auf ihn vom Alkohol loszubekommen. Ehrlich gibt Herr D. zu: „Der Hass auf mich selbst war so groß, dass ich meine Mutter einmal fast umgebracht hätte, als sie mich am Kiosk erwischte.“ Um Hass, Selbsthass und Schmerz auszuhalten zu können, habe er sich häufig selbst Schmerzen zugefügt mit Zigaretten oder Schnittwunden. Die Narben sind noch heute sichtbar.
Die erste Zeit bei den Stadtwerken verlief problemlos, er konnte sich zusammenreißen und weniger trinken. Aber die Geschichte wiederholte sich. Herr D. versteckte Rechnungen, erledigte Aufgaben nicht, sodass letztendlich 1,5 Millionen DM offen waren und er sich gegenüber der Geschäftsführung erklären musste. „Natürlich wussten alle von meinem Problem. Aber keiner hat etwas gesagt. Auch ich konnte nicht reden, mein Mund war versiegelt, weil mir klar war, wenn ich jetzt was sage, muss ich etwas tun. Aber ich wusste nicht, was ich tun sollte“, so Herr D. Entlassen wurde er mit den Worten „Wenn Sie private Probleme haben, tun Sie was!“.
Der erste und entscheidende Schritt
Den genauen Antrieb kann er nicht mehr erklären, aber tatsächlich ging Herr D. kurze Zeit später zu seinem Hausarzt, der ihn kurzerhand in die Entgiftung nach Emden vermittelte. Das war der erste und entscheidende Schritt. „Mein Glück: Ich hatte keine Ahnung, was mich in der Entgiftung erwartet. Vermutlich hätte ich sonst den Termin nicht wahrgenommen und weitergetrunken.“ Eingeliefert wurde er im Juli 1984 mit 3,8 Promille. Die Ärzte gaben ihm noch drei bis vier Wochen, wenn er so weitermache. Ab da ging die Hölle los, die er heute froh und dankbar ist, durchlebt zu haben. Nach drei Wochen kehrte Herr D. zurück nach Norderney und konnte zum ersten Mal mit klarem Kopf über sein Leben nachdenken. Für ihn stand fest: „Wenn ich jetzt wieder zur Flasche greife, dann bin ich tot!“ Er schaffte es, trocken zu bleiben, wenn auch mit ein paar kritischen Situationen. „Ich träume auch heute noch vom Alkohol“, gibt Herr D. zu. Sein Hausarzt beantragte im Anschluss an die Entgiftung eine Therapie, die ihn im September 1984 in die Wiehengebirgsklinik nach Bad Essen/Hüsede führte.
Schlüsselerlebnis Therapie
Wie ferngesteuert habe er wahrgenommen, dass er nun ein halbes Jahr in der Klinik sein würde. Der Zeitraum sei ihm erst im Nachhinein klar geworden. „In die Klinik bin ich mit dem Gedanken gereist, dass sie mir sagen, dass ich hier falsch bin und keine Therapie brauche. erinnert sich Herr D. Heute weiß er: In der Therapie werden die Bodenplatten für die Achterbahn gelegt. Er habe Zeit gebraucht, um in der Therapie anzukommen. Sich in den Gruppen- und Einzelstunden zu öffnen, fiel ihm schwer. Als Schlüsselerlebnis der Therapie bezeichnet Herr D. seine Heimfahrt über Weihnachten, auf der er sich von seiner damaligen Freundin trennte. Trotz später Rückfahrt empfingen ihn seine Gruppenmitglieder an der Klinik. „Da habe ich zum ersten Mal in meinem Leben geweint und gemerkt, dass ich Gefühle habe. Ich kannte es nicht, Gefühle zu zeigen und dass da welche sind, die einen mögen. Ich bin nach dem Motto „Indianer kennen keinen Schmerz“ erzogen worden“, beschreibt Herr D. weiter. Ab diesem Zeitpunkt hätte die Therapie noch weitere sechs Monat gehen können und er fing an zu reden, es sprudelte nur so aus ihm heraus. „Das nächste Mal habe ich dann bitterlich geweint, als ich wieder nach Hause musste. Ich wollte nicht weg.“
Rückkehr nach Hause
Nach seiner Entlassung aus der Klinik konnte er tatsächlich in seinen alten Job zurückkehren und dort bis zur Rente weiterarbeiten – vernünftig und ohne zu trinken. Er habe einfach Glück gehabt. Noch am Tag seiner Entlassung ist er auf Norderney abends in eine Selbsthilfegruppe gegangen, mit der er aus der Therapie heraus Kontakt aufgenommen hatte. Das war einer der wichtigsten Schritte für ihn. Noch heute ist reden die beste Medizin für ihn. Seine Bandkollegen waren und sind immer noch eine weitere wichtige Stütze, auch wenn er sich zunächst von der Musik abgewandt hatte. Es dauerte aber nicht lange und es juckte wieder in den Fingern. Noch heute spielen sie Auftritte, jedoch nicht mehr so häufig wie früher. Außerdem hatte er eine Ankerperson, die er Tag und Nacht anrufen konnte, wenn es ihm nicht gut ging.
„Es liegt an mir selbst!“
Mit der Zeit wurde ihm klar: Loslassen ist eines der wichtigsten Dinge im Leben. „Ich musste mich selbst loslassen, den Alkohol, viele Leute, die ich kannte, meine Musik. Das war nicht einfach, aber es funktioniert“, erklärt Herr D. Zu Hause habe er ein dickes Buch, in dem er immer noch jeden Morgen lese; „Die Kraft vom Loslassen“. Außerdem frage er sich nach wie vor jeden Morgen: „Was hast du gestern gemacht? Nicht getrunken! – auch noch nach 38 Jahren.“ Und er geht offen damit um, Alkoholiker zu sein. So versucht er, seine Erfahrungen im Umgang mit der Erkrankung weiterzugeben und so andere Betroffene auf einen abstinenten Weg zu bringen: “Das ist meist ziemlich schwer, aber ich gebe nicht auf“. Er sei heute froh und dankbar, dass er noch lebe, auch wenn es ihm mal schlecht gehe. Am Ende des Tages müsse jeder für sich überlegen, wieso er trinke. „Und so hart das auch klingt, ich bin froh und dankbar dafür, dass ich so eine schwere Zeit in der Entgiftung und vorher erlebt habe und das Glück hatte, schon mit 32 Jahren aufgehört zu haben“, bilanziert Herr D. „Es ist keine Schande, krank zu sein. Aber eine Schande, nichts dagegen zu tun.“ Er habe immer etwas für sich getan, tue es noch heute und habe sich letztendlich selbst das Leben gerettet.